Simon Thaddäus Rieder und die Grenzen der Geschichtswissenschaft
Die kleine Südtiroler Gemeinde Feldthurns hat einen „großen Helden“. Simon Thaddäus Rieder, geboren 1750 in Mühlbach, von französischen Soldaten Anfang Dezember gefangen genommen und am 17. Dezember 1809 im Schatten des Domes zu Bozen hingerichtet.
Heute erinnern an ihn eine Inschrift am Peter-Mayer-Denkmal am Bozner Domplatz, eine Gedenktafel in Feldthurns und eine lebensgroße Bronzestatue vor dem Feldthurner Gemeindehaus, gefertigt von Othmar Winkler.
Doch wer war dieser Simon Rieder, warum wurde er den letzten Tagen der Tiroler Erhebung von 1809 erschossen, wie hat sich sein Andenken bis in unsere Zeit bewahrt und wie lässt sich diese im Ort gegenwärtige Erinnerung mit Quellen belegen, bestätigen, ergänzen oder widerlegen? Fragen, denen in diesem Text nachgegangen werden soll. Ein Text, der am Beispiel Simon Rieder auch die Möglichkeiten und Grenzen der Geschichtsforschung aufzeigen soll.
Das bisherige Wissen über Simon Rieder beruht auf mündlicher Überlieferung, weitererzählten Berichten Zeitgenossen Rieders, niedergeschrieben und fixiert vom Pfarrer Josef Siegmund in einem Bericht für die Neuen Tiroler Stimmen vom Freitag den 5. Mai 1911, verfasst anlässlich eines Freischießens in Feldthurns. Darin erzählt Siegmund von der Gefangennahme des Simon Rieder durch die Franzosen, die ihn beschuldigten hatten, einen Munitionswagen bei den Gefechten um Brixen und Klausen im November gestohlen zu haben:
Mitten in einer kalten Dezembernacht ward das Planklhaus in aller Stille und mit größter Eile ganz von Militär umstellt, die Bäurin schickte man in den Keller, vorgeblich um Wein zu holen, und als sie zurückkam, war ihr Mann samt dem Militär schon verschwunden, niemand im Dorf hatte etwas gemerkt, so still und eilfertig war alles vor sich gegangen. (Neue Tiroler Stimmen, 1911, Nr. 103, 1)
Wie Hans Fink im Feldthurner Dorfbuch vermerkt, sei die Verhaftung des Hauptmann der Feldthurner Schützen von 1797 und 1809 erst auf Verrat eines Neiders geschehen (Fink, Dorfbuch Feldthurns, 66.). Während dem gleichnamigen Sohn Simon Rieders noch die Flucht gelang, wurde der Vater nach Bozen gebracht, wo er gemeinsam mit einem Wirt aus Villnöß am 17. Dezember erschossen wurde. (Tagebuch des Bozner Anton Hepperger, 55.) Nach einer Anmerkung Josef Hirns war dieser Wirt vermutlich Georg Kaneider. (Hirn, Tirols Erhebung, 828.) In einem Eintrag in den Sterbematriken der Bozner Pfarre Maria Himmelfahrt ist hingegen zu lesen, dass an besagtem Tag neben dem Bauer Simon Plankl – dies der Hofname Rieders – der 59jährige Müller Georg Zeller als Anführer eingebracht und ohne gehört zu werden um 12 Uhr mittags von den Franzosen erschossen [wurde]. (SLA, MA 303, Sterbebuch Bozen 1795-1810, Eintrag vom 17. Dezember 1809.)
Vergleicht man diese traditionelle Überlieferung mit Informationen aus heute noch vorhandenen, auffindbaren und zugänglichen Quellen, können folgende Schlüsse gezogen werden: Abgesehen vom Tod Rieders, welcher sowohl von Zeitzeugenberichten (Hepperger), mehreren historiographischen Arbeiten zur Erhebung von 1809 (Hirn, Erhebung, 828; Egger, Geschichte Tirols, Bd. 3.2, 786), den Sterbematriken und den Gefallenenlisten (siehe Beitrag Kämpfe in Meran: Bergisel-„Schlacht“ im kleinen Stil) dokumentiert ist, finden sich keine Quellen zum Vorgang der Verhaftung Rieders und auch keine Quellen zum Grund dieser Verhaftung, nämlich zum Vorwurf des Diebstahls eines Munitionswagens Genauere Auskünfte über den Grund der Verhaftung, die Verurteilung und Exekution Rieders könnten anhand französischer Gerichtsprotokolle gewonnen werden. Nach Informationen von Martin Schennach befinden sich in den französischen Archiven jedoch nur sehr wenige Unterlagen zu den Ereignissen in Tirol zur Zeit der Erhebung von 1809. Seinen Recherchen zufolge scheint in den wenig vorhanden Materialien der Name Simon Rieder nicht auf. Vielmehr widerlegen die Quellen, hier die sogenannten Standeslisten der Jahre 1797 und 1809 (TLA, Abt. Landesverteidigung, Standeslisten 1797, 1809) die Aussage, Simon Thaddäus Rieder wäre zu besagter Zeit Hauptmann der Feldthurner Schützen gewesen. Da die Auszüge der Tiroler Schützen im Kriegsfall auch immer mit anfallenden Kosten verbunden waren – die Schützen (und Landstürmer) mussten verpflegt werden, während ihre Arbeitskraft zu Hause fehlte – führten die Kompanien für die entsprechende Kostenabrechnung mit dem Landesfürsten und der Landschaft genaue Aufzeichnungen darüber, wer, wann wie lange und wo im Einsatz war. Diese Aufzeichnungen – die Standeslisten – liegen heute gesammelt im Tiroler Landesarchiv.
Eine Durchsicht der Listen zeigt nun, dass Simon Thaddäus Rieder weder im Jahr 1797 noch 1809 mit den Feldthurner Schützen ausgezogen war, nicht als „gemeiner Schütze“ und nicht als „Hauptmann“; im Gegensatz zu seinem Sohn Simon Franz Rieder, welcher bei sämtlichen Auszügen des Jahres 1809 dabei war, einmal auch als Hauptmann.
Dieser Befund schmälert nicht die Erinnerung an Simon Thaddäus Rieder im Dorf Feldthurns, seine Erschießung am 17. Dezember 1809 in Bozen steht fest und die Entwicklung mündlicher Tradition ist für sich ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Inwieweit sein Tod jedoch mit einer möglichen Beteiligung am Aufstand des Jahres 1809, dem vorgeworfenen Diebstahls eines Munitionswagens oder etwa innerdörflicher Rivalität – immerhin sei Rieder ja von einem Neider verraten worden, wie auch der bekanntere Schicksalsgenosse Rieders Andreas Hofer – in Zusammenhang steht, darüber kann heute mangels greifbarer und somit auch überprüfbarer Quellen nur noch spekuliert werden.
Peter Andorfer
Quellen und Literatur:
– Josef Egger, Geschichte Tirols von den ältesten Zeiten bis in die Neuzeit, Bd. 3,2, Innsbruck 1880.
– Hans Fink 1000 Jahre Feldthurns 957-1975, Bozen 1975.
– Josef Hirn, Tirols Erhebung im Jahre 1809, Innsbruck 1909.
– Seraphin, Anton v., Tagebuch des Herrn Anton Seraphin v. Hepperger, Bürgermeister von Bozen vom Jahre 1805, in: Die Heimat. Blätter für tirolische Heimatkunde, hersg. von Franz Innerhofer, Meran, Heft Nr. 3, Jahrgang 1914/15, 49-59.
– Sigmund, J., Die beiden Landesverteidiger von 1809 in Feldthurns, der Planklbauer Simon Rieder und dessen gleichnamiger Sohn, in: Tiroler Stimmen, Jg. 191, Nr. 103, 1f.