Abrechnung und Reflexion
Bozen endete das Jahr 1890 mit einem bitteren Streit. Binnen weniger Wochen brachen bereits überwunden geglaubte Gräben auf, unerfüllte Hoffnungen mutierten schnell zu machtlosem Frust, erfahrene Demütigung und erlittenes Unrecht verleiteten zu rachelüsternen Angriffen auf ehemalige Gegner: Konflikte und Motive, strategische Leitlinien und Interessen, Privilegien und neue Ambitionen der Bozner Führungsschicht vermengten sich zu einem öffentlich ausgetragenen, von Pamphleten und Flugschriften vermittelten publizistischen Kleinkrieg.
Zwischen November 1809 und März 1810 erschienen insgesamt sieben Druckschriften, die einerseits als erste Reflexion der Rolle Bozens während des Aufstandes von 1809 zu lesen sind, andererseits in ihrer Form und Sprache als satirische Abstrafungen zentraler Akteure der Stadt waren. Die Folge davon waren nicht nur Unmut und Verbitterung, sondern aufgrund der nunmehr bemühten Dimension der Öffentlichkeit auch Belustigung und Neugier in breiteren lesenden Schichten.
Ihren Ursprung nahm die Fehde im April 1809, als führende bayerische Beamte und Sympathisanten der bayerischen Regierung durch aufständische Bauern und besonders durch den österreichischen Intendanten Joseph von Hormayr (1782-1848) zuerst öffentlich gedemütigt und dann, wie es das Bozner Ratsprotokoll vom 15. April festhält, unter dem Geklatsche des Volkes aus Bozen entfernt und nach Ungarn deportiert wurden. Sicher nicht unbeteiligt an dieser Aktion waren die Mitglieder des ehemaligen Stadtrates und die ersten Handelshäuser der Stadt, die den Aufstand großzügig finanziert und sich im entstehenden Machtvakuum prompt alte, von den bayerischen Reformen abgeschaffene Privilegien eigenmächtig wieder gesichert hatten.
Als sich im November die Niederlage der aufständischen Tiroler abzeichnete und die Führungsschicht Bozens sich zunehmend Richtung Mailand orientierte, rüsteten die sich nunmehr in München aufhaltenden unglücklichen Deportierten zu einem finalen Gegenangriff. Dieser sollte einerseits die am Aufstand Beteiligten diskreditieren, ihnen andererseits selbst in einem befriedeten und wieder an Bayern angeschlossenen Tirol führende Positionen zusichern. Hierfür wählten sie in einer konzertierten Reihe von veröffentlichten Druckschriften den Weg der öffentlichen Polemik, der es ihnen ermöglichte, diese beiden Ziele – die eigene Gunst in München und Tirol sowie die Abstrafung der Gegner – zu verbinden und gleichzeitig, räumlich ungebunden, zu verfolgen.
Den Auftakt tat Joseph August von Schultes (1773-1831), ein Mediziner und Botaniker aus Wien, glühender Anhänger Napoleons und Bayerns. Schultes freundete sich in Wien, wohl als er im Theresianum Naturgeschichte dozierte, mit Joseph von Giovanelli dem Jüngeren (1784–1845), Sprössling einer der führenden Familien Bozens und Absolvent der kaiserlichen Lehranstalt, an. Schultes, der 1806 auf den Lehrstuhl für Botanik und Chemie nach Krakau berufen wurde, beklagte sich beiden befreundeten Giovanellis mehrfach über die politische Enge der Habsburgermonarchie und bat die einflussreiche Familie, ihm eine Anstellung im nunmehr bayerischen Tirol zu besorgen. Tatsächlich erhielt der aufstrebende, aufklärerische Botaniker 1808 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Naturgeschichte nach Innsbruck – wohl ohne eine giovanellische Intervention. Wie viele andere führende Bozner Familien distanzierten sich auch die Giovanellis zunehmend von der bayerischen Regierung, sodass es auch zum Bruch der Wiener Jugendfreundschaft kommen musste: Schultes dozierte seinem Freund in einem Brief, dass wohl Österreich nur noch zwei Jahre dauern würde, während der Bozner in Flugschriften indes heftig gegen die bayerische Repression gegen die Churer Priester agitierte.
In seiner Schrift „Zwei Aktenstücke über die Meutereyen in Tyrol“, in der er sich des Pseudonyms des greisen Brixner Theologieprofessors Joseph Malsiner bediente, rechnete der ebenso deportierte Botaniker Schultes mit dem aufständischen Tirol und besonders mit seinen ehemaligen Bozner Freunden ab. Die Aufständischen erschienen ihm als wilde, unkontrollierbare Rebellen, als obskure Front gegen die aufgeklärte Regierung Bayerns. Bezeichnend ist seine Persiflage auf die für den 1. Mai in Brixen einberufenen Mitglieder des – wohl nie abgehaltenen engeren ständischen Ausschusses: Bandelkrämer, Mauleseltreiber, Milchbauern, abgehauste Wirthe, schlichtweg Gesindel seien die auserwählten Führer des Tiroler Volkes. (S. 21-35) Die einzelnen Mitglieder porträtierte Schultes in ätzenden Karikaturen: Giovanelli der Ältere (1750-1812) gleiche in seinem venetianischen Mantel dem Ideal von einem Banditen (S. 28), den Wiltener Abt nannte er eine der verderblichsten Giftpflanzen im Weingarten des Herrn (S. 23), den Grieser Propst schlicht als Weinjuden (S. 24) und der ebenso einberufene Andreas Hofer galt ihm als geistig minderbemittelter Analphabet, als fromme Marionette der eigentlichen Anführer des Aufstandes. (S. 32f., 49f.). Besonders markant tritt der antiklerikale Charakter der Schrift hervor, Bozen galt ihm indes als Zentrum der Empörung, das Haus Giovanelli als Feuerherd der Revolution (S. 28).
Dieser Affront gegen die führenden Persönlichkeiten war jedoch bloß ein Präludium des publizistischen Angriffs: Wirklich kompromittierend wirkte die wenig später folgende, vom umtriebigen Schultes ebenfalls in München herausgegebene, zweibändige und über 500 Seiten starke „Deportationsgeschichte“, in der zahlreiche Deportierte ihre misslichen Erfahrungen dokumentierten und erneut besonders die Familie Giovanelli angriffen. Neben den in Bozen malträtierten bayerischen Beamten Freiherr von Donnersberg, Christian Aldosser und Graf von Khuen exponierte sich darin besonders der ambitionierte, politisch gewandte Bozener Kaufmann Johann Jakob von Ehrenfeld (1769-1814). Dieser beklagte nicht nur die rechtlich fragwürdige Deportation, sondern denunzierte in einer Eingabe an den bayerischen König außerdem die alte Bozner Ratselite als die eigentlich treibende Kraft des tirolischen Aufstandes. Wie Aldosser und Schultes zeichnete auch er das Bild einer allmächtigen Bozner Geheimgesellschaft – der chinesischen Liga –, deren weitgespannten Fäden seit Jahrzehnten die Geschicke Tirols bestimmten (Band II, 193-206). Wolle der König ein befriedetes Tirol regieren, so müsse er Bozen von den „Chinesen“, als deren Häupter Joseph von Giovanelli, Stadtprobst Buol sowie der Merkantilmagistrat fungierten – dringlichst „reinigen“. Um seiner Schrift Nachdruck und verstärkte Öffentlichkeit zu geben, ließ er sie gesondert drucken und noch 1809 in Bozen und München und verteilen.
Wenngleich die angegriffenen Bozner sich bereits im Dezember 1809 deutlich nach Mailand orientierten und sich mehr oder weniger offen für einen Anschluss an das italienische Königreich bemühten, war ein Verbleib bei Bayern in den konfusen Wochen nach dem Aufstand nicht auszuschließen – somit machte nicht nur ihr verstimmtes Ehrgefühl, sondern auch die durch die Pamphlete zu befürchtende Missgunst in München eine Antwort auf die bitteren Anschuldigungen dringend notwendig. Dieser Aufgabe stellte sich Joseph von Giovanelli der Jüngere, der sich von der antiboznerischen Publizistik seines ehemaligen Jugendfreundes Schultes besonders gekränkt zeigte. Zunächst veröffentlichte er „Epistel an Malsiner“, in dem er die Aktenstücke Schultes als lügende Blätter eines gall- und rachsüchtigen Scriblers (S. 3), die als meuchelmörderische Waffen alles, was heilig ist, den niederträchtigen Absichten ihres Verfassers schlachten. (S. 4f)
Offenbar war in Bozen die Urheberschaft der Münchner Schriften bald schon bekannt: Diese Gleichheit der Gedanken, und des Styls, und noch mehr der gleiche Grad an Bösartigkeit, die nähmliche Tendenz, (Befriedigung einer unglücklichen Rachsucht von Seite des Verfassers), die, allen Glauben übersteigende, Unverschämtheit, wodurch sich diese beyden Schriften charakterisieren, lassen unmöglich einen gemeinschäftlichen Verfasser als den Vater dieser missrathenen Zwillingsgeschwisterte verkennen. (S. 39)
Giovanelli strengte in seiner Antwort eine passionierte Verteidigung Tirols und Österreichs sowie besonders der von den Münchner Schriften scharf kritisierten Katholischen Kirche bzw. Jesuiten an, und legitimierte damit – implizit– den eben niedergeschlagenen Aufstand.
Im März 1810 reagierten führende Handelsleute sowie der Merkantilkanzler Joseph von Plattner in einem öffentlichen Schreiben an den bayerischen König, in dem sie Ehrenfeld als herrschsüchtigen Intriganten, der zu Beginn des Aufstandes im April der Erste war, der die baierische Cocarde ablegte, und die österreichische Uniform anzog (Fn. 4) und als Verleumder bezichtigten. Graffs Grimm gegen den Bozner Handelsstand wurzle vielmehr in unlauteren handelspolitischen Motiven, weshalb ihm der König keinen Glauben schenken möge. Wie sehr dies der Handelsstand fürchtete, verdeutlichen die letzten Passagen der Schrift, gleichsam ein Kniefall der einst so stolzen Gremiums: Wir bitten daher Eure Königl. Majestät demüthigst, dieser Verläumdungen wegen den allerunterhtänigsten Mercantil-Magistrat Allerhöchst Dero Ungnade nicht fühlen zu lassen.
Das letzte Wort in dieser skurrilen Fehde hatte erneut Joseph von Giovanelli der Jüngere, der in einem abschließenden Frontalangriff auf Ehrenfeld im Namen seines Vaters dessen Ehre und jene seiner Familie zu retten suchte. Giovanelli suchte offensiv die Gunst des Publikums zu gewinnen, in dem er Ehrenfeld und en passant weitere Deportierte, besonders Christian Aldosser, lächerlich machte, ihre Schriften als literarische Mißgeburten abstrafte, die nicht die Misshandlungen der Deportierten, sondern vielmehr Mißhandlungen der deutschen Sprache und des gesunden Menschenverstandes (S. 16) darstellten. Ohne eine breitere Argumentation anzustrengen, stellte Giovanelli die Deportierten als rachsüchtige Verleumder dar, die wie tolle Hunde (S. 7) wahllos den guten Namen ehrbarer Bürger beschmutzten.
Mit dieser letzten Schrift, die Ende März 1810 veröffentlicht wurde, ging das lange Jahr 1809 auch in Bozen zu Ende – eine neue, ungewisse Zukunft bereitete diesen medialen Grabenkämpfen ein rasches Ende. Diese Bozner Fehde mag zwar nur ein von persönlichen Insinuationen geprägter Nebenschauplatz des Aufstandes gewesen sein, zeigt uns doch, wie diffus die Motivationen im April 1809 waren, wie sich handelspolitische Interessen, Standesbewusstsein und Bewahrung alter Privilegien, Religiosität und antiklerikale Aufklärung, monarchische Loyalitäten und nicht zuletzt auch persönliche Stimmungslagen vermengten. Einseitige Meistererzählungen greifen, wie so oft, auch hier zu kurz.
Bedeutsam ist schließlich die neuartige Form des öffentlichen Disputes, der – ähnlich wie in Innsbruck zwischen Joseph von Hormayr und Joseph von Hörmann – in Bozen zwischen November 1809 und März 1810 in ungekannter Dichte einsetzte. Auf über 700 Seiten wurde um eine verbindliche Interpretation des Aufstandes und der Deportationen gefochten und gleichsam versucht, auf die Zukunft Einfluss zu nehmen. Das Bozner „Publikum“ schien daran Gefallen zu finden. So schrieb der Vater Giovanelli Anfang 1810 an seinen Sohn, man erwarte sich in Bozen wieder eine witzige Übersetzung und eine salzige Antwort auf Graffs Zirkulare. Sogar in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung fand die Fehde einen Rezensenten, der sie zu den traurigen Erscheinungen unserer Zeit rechnete.
Allerdings wird es jedoch bis zur nächsten Revolution – jener von 1848 – dauern, bis Bozen, aber auch Tirol wieder derart intensive Form politisierter Öffentlichkeit erleben wird.
Florian Huber
Literatur:
– Allgemeine Literatur Zeitung, Nr. 297, October 1810, 465-472.
– Carl von Breitenberg, Der Merkantilkanzler Franz von Plattner (1771-1817). Ein Kapitel zur Geschichte von Bozen, in: Der Schlern 45 (1971), 150-161.
– Johann Jakob Freiherr von Ehrenfeld, Geschichte der Deportirung des Johann Graff Baron von Ehrenfeld, [München] 1809.
– Gegenvorstellung der außermärktlichen Deputirten: Johann Anton Grätzl, Carl Hingerle, und Joseph von Zallinger, dann des Kanzlers des Mercantil-Magistrats zu Botzen Dr. Franz v. Plattner über die Vorstelllung des Freyherrn von Ehrenfeld, an Se. Majestät den König von Bayern, als Beylage Nro. IX. zu seiner Deportations-Geschichte, o.O 1810.
– [Joseph von Giovanelli d. J.], Des Freyherrn von Ehrenfeld etc. verleumderische Vorstellung an Se. Majestät den König von Baiern, nebst einigen Noten und der Gegenvorstellung eines der Verleumdeten, o.O. 1810.
– [Joseph von Giovanelli, d. J.], Epistel an Malsiner, o.O. 1810.
– [Joseph von Giovanelli, d. J.], Brandopfer auf dem Altar des gesunden Menschenverstandes, o.O. 1808.
– Florian Huber, „de Heren von Botzen … une espèce de noblesse subalterne“: Eliten in Bozen: Beharrung und Wandel zwischen 1800 und 1820, in: Marco Bellabarba u.a. (Hg.), Eliten in Tirol zwischen Ancien Régime und Vormärz (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 31), Bozen 2010, 241-265.
– Josef Nössing [Hg.], Bozen zur Franzosenzeit 1797-1814, Bozen 1984.
– [Joseph August Schultes], Geschichte der Deportirung der königlich baierischen Civilbeamten nach Ungarn und Böhmen: nebst Bemerkungen über die gleichzeitigen Kriegsereignisse, und über die durchwanderten Länder, [München] 1810.
– [Joseph August Schultes], Zwei Aktenstücke über die Meutereien in Tyrol, als Kommentar zu dem Artikel aus Innsbruck in der allgemeinen Zeitung Nro. 25. Zum Besten der Witwen und Waisen der in Tirol gebliebenen Soldaten, [München] [1809].